2017/12/21


Göttlicher Wind

Chiran ist ein kleiner Ort auf der Insel Kyushu im Südwesten Japans. Wellen aus Grünteesträuchern erstrecken sich bis zum Horizont und an der Küste erhebt sich ein vollkommen geformter, grüner Kegel-Vulkan. Als zum Ende des 2. Weltkriegs die Piloten der Tokkotai-Mission von hier aus in die Luft stiegen, war er zumeist das Letzte, was sie von ihrem Heimatland gesehen haben. Im Museum hängen an den Wänden ihre Portraits. Nach Todestag sortiert. Nur wenige Gesichter älter als 20. Die Schaukästen darunter zeigen Persönliches: fleckige Stirnbänder und Abschiedsbriefe, handgeschriebene Gedichte und Tuschemalereien. Viele haben sich freiwillig gemeldet, heißt es. Familienväter wurden abgelehnt, Witwer aber nicht. Eine Frau ertränkte sich mit ihren Kindern für den Ehemann im Fluss.

Sonne im Mai
bunte Karpfen tanzen
am Fahnenmast


Sommergras 119, Journal der Dt. Haiku Gesellschaft

2017/12/18


Platzregen
im Rücken die Wärme
eines Sommertags

Sommergras, Zeitschrift der Dt.Haiku Gesellschaft

2017/12/16


Hinter dem Bambus

Er grüßt mich lächelnd durch das geöffnete Fenster seines weißen Nissan Cubes, so wie er alle von uns grüßt. Wir sind westliche Frauen, etwas größer und runder als die meisten Japanerinnen, haben hellere Haare und auf unseren hohen Nasenwurzeln thronen Sonnenbrillen. Aber ehrlich, was wissen wir schon voneinander?

erster Frühlingstag
der Teemeister liefert
gebügelte Hemden


Sommergras 119, Zeitschrift der Dt. Haiku Gesellschaft

2017/11/17

2017/11/05


all you can eat
a girl swallows
her loneliness


autumn equinox
still adjusting
to my mediocrity


in flight entertainment
i choose
the lenten moon


faILed haIKu
A Journal of English Senryu
Vol 2, Issue 23

2017/10/17

Published with Chrysanthenum 22, October 2017


längste Nacht
ich gebe die Wörter
der Stille zurück

longest night
I return the words
to the silence

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Kaugummiautomat
der Geschmack
meines ersten Kusses

gumball machine
the taste
of my first kiss

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Heidelbeeren
noch lange das Blau
einer Wanderung

huckleberries
for a long time the blue
of a hike


***


Haibun

"Die Kunst ist der nächste Nachbar der Wildnis"*

steht in silbernen Buchstaben der orange gestrichenen Mauer. Ein paar Schritte weiter wachsen Birken und Robinien aus stillgelegten Gleisen. Das Metall ist von saftigem Moos überzogen. In der Lokhalle des ehemaligen Berliner Rangierbahnhofs, der in den 40er Jahren täglich über 130 Güterzüge verschoben hat, hängen auf einer Leine rote und weiße Tücher. Vielleicht sind es Requisiten der Shakespeare Company Berlin, die hier am Abend zuvor noch Romeo und Julia gegeben hat.

Nachtigallenlied
ich falte Papierblumen
aus dem Regelheft



"Art is the closest neighbor to wilderness"**

is imprinted in silver letters on the orange-painted wall. A few steps further, birches an locusts grow from abandoned tracks. The metal is covered with juicy moss. In the engine shed of the former Berlin marshaling yard, which daily moved over 130 freight trains during the 40s, are hanging red and white clothes on a line. Perhaps they are the props of the Berlin Shakespeare Company, who gave Romeo and Juliet the night before.

Nightingale song
i fold paper flowers
from the rule book

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* Zitat von Karl Ganser
** Reference to Karl Ganser, a German geographer and city planer, especially awarded for ecological space planning including the preservation of historic industrial sites.